NADINE LEMKE

Nadine Lemke entwickelt eine künstlerische Praxis, in der textile Techniken, Rauminterventionen und zeichnerische Präzision zu einem vielschichtigen Reflexionsraum zusammenfinden. Ihre Installationen, oft gehäkelt, geknüpft oder gespannt, wirken zunächst zart und ephemer – und sind gleichzeitig von einer strukturellen Strenge durchzogen, die sich aus Wiederholung, Verdichtung und Dehnung speist.

Im Zentrum steht für Lemke die Frage, wie persönliche und gesellschaftliche Muster entstehen: jene unsichtbaren Routinen, die Zugehörigkeit herstellen, aber auch Trennung erzeugen – Muster, die sich in Biografien, Geschlechterrollen, Familienstrukturen und historischen Erwartungen sedimentiert haben. Handarbeit wird hier nicht als dekorative Technik eingesetzt, sondern als kritisches Werkzeug, ein Medium, das die vielschichtigen Bedeutungen von Textilgeschichte freilegt und transformiert. Wie ihr Booklet-Text betont, ist textile Arbeit immer doppelt konnotiert: Sie steht sowohl für die jahrhundertelange Ausbeutung und Unsichtbarmachung weiblicher Arbeit als auch für Empowerment, kollektive Organisation und politische Artikulation – von den Suffragetten bis zu aktuellen feministischen Bewegungen. Lemke positioniert sich bewusst in dieser Ambivalenz: Ihre Häkelarbeit ist eine Haltung, eine selbstgewählte Praxis, die bestehende Rollenbilder sichtbar macht und deren historische Bedeutung unterwandert.

Die materiellen Entscheidungen sind dabei ebenfalls politisch. Die in vielen Arbeiten verwendeten Strukturen unterscheiden sich deutlich von traditionellen Häkelmustern: Sie wirken offen, durchlässig, körperlos oder skizzenhaft, oft wie dreidimensionale Zeichnungen. Lemke „befreit“ das Häkelobjekt aus seiner gewohnten dekorativen Bindung und verschiebt es in den Raum hinein – als Fragment, als Gitter, als Spur, als Setzung, die Architektur adressiert und erweitert. Ihre Objekte hängen, stehen, schweben; sie agieren mit Fenstern, Schattenwürfen und räumlichen Achsen und erzeugen ein Wechselspiel zwischen Innen und Außen. Der Ausstellungstext zu Ephemere Verhältnisse II beschreibt dies als „dreidimensionale Zeichnungen“ und als organisch anmutende Formen, die mit Raumgegebenheiten kommunizieren und sie zugleich neu codieren.

Gerade dieser Übergang zwischen Textil und Raum verleiht ihren Arbeiten eine besondere zeitgenössische Qualität. Ihre Strukturen wirken wie bewusste Zwischenzustände: weder abgeschlossen noch stabil, sondern in Entwicklung begriffen – als könnten sie sich weiter verstricken, ausbreiten, verändern. In dieser Offenheit legt Lemke jene Prozesse frei, die sich kaum benennen lassen, aber alltäglich wirksam sind: Herkunft, Zugehörigkeit, Tradierung, Erinnerung, Fürsorge, Belastung. Auch biografische Schichten sind Teil ihrer Praxis. Ihre Arbeiten greifen persönliche Herkunftsfragen, frühe Umgebungserfahrungen und familiäre Narrative auf, ohne sie illustrativ zu behandeln. Vielmehr transformiert sie diese Spuren in abstrakte Muster, in Räume des Übergangs, in Fragmente, die das Private in eine kollektiv lesbare Sprache überführen.

Dadurch entsteht eine künstlerische Sprache, die sowohl visuell poetisch als auch strukturell präzise ist:

Eine Praxis, die textile Gesten in architektonische Bewegungen überführt.

Eine Praxis, die persönliche Herkunft in gesellschaftliche Muster einschreibt.

Eine Praxis, die das Ephemere als Form der Widerständigkeit versteht.

Nadine Lemkes Arbeiten fordern kein finales Bild, sondern erlauben ein temporäres Lesen – ein Sehen, das sich wie ein Text entfaltet, ein Knoten nach dem anderen.

von Francesca Romana Audretsch (2025)